Wenn ich Old Filth mit einem Wort charakterisieren
müsste, würde ich sagen: Leichtigkeit. Nicht weil es um
leichte Themen geht (Einsamkeit, Ehebruch, Schuld,
Altern und Tod …) oder weil diese Themen ins Leichte und
Luftige gezogen würden, sondern weil sich die
Erzählstimme so frei und souverän durch ihren Stoff
bewegt. Von Figur zu Figur, von Zeitebene zu Zeitebene.
Beim ersten Lesen war ich einfach von der Geschichte und
den Figuren fasziniert. Ich bin mit der Erzählstimme
durch die Zeiten gesprungen, und auch wenn ich es
letztlich besser wusste, war mein Eindruck: Jane Gardam
erzählt, wie es ihr gerade einfällt. Beim zweiten Lesen
hatte ich dann den Ehrgeiz, ihr ein wenig auf die
Schliche zu kommen, und habe mir genauer angeschaut, wie
sie die Stränge miteinander verwebt.
Die erste Beobachtung: Wenn man von wenigen
zusammenfassenden Passagen (besonders ganz am Anfang)
absieht, behandelt der Roman zwei klar getrennte
Zeitabschnitte. Der eine reicht von der Geburt der
Hauptfigur Eddie/Old Filth bis zu dem Tag im Jahr 1947,
an dem Coleridge in der Anwaltskanzlei auftaucht, der
andere von Veneerings Telefonat mit Betty bis zu Filths
Flug nach Asien. Die Jahrzehnte dazwischen werden
vollständig ausgespart.
Die zweite Beobachtung: Der Erzählstrang um den jungen
Eddie wird zwar immer wieder unterbrochen, verläuft in
sich aber fast durchgängig chronologisch. Auf die Geburt
folgt die Verschickung nach England, dann Wales, dann
Sirs Schule, dann die weiterführende Schule, der Besuch
in Oxford, die erzwungene Evakuierung usw.
Es gibt zwei Ausnahmen: Die Ferienzeiten bei den
Ingoldbys werden zunächst bis zum Kriegsbeginn
durcherzählt; dann kommt ein Sprung zum alten Filth
(Bettys Tod), und bei der Rückkehr zum jungen Eddie sind
wir bei der Begegnung mit Isobel im Jahr 1936. Die
zweite Ausnahme ist eine strategische Aussparung: Über
die Zeit in Wales wird nichts erzählt, der Roman springt
hier von der Schiffsfahrt nach England gleich zu dem
Tag, an dem die Kinder aus Wales abgeholt werden. Was in
Wales passiert ist, wird erst am Ende nachgeliefert,
nicht von der Erzählstimme, sondern von den beteiligten
Personen.
Im Erzählstrang um den alten Filth geht es weniger
geordnet zu. In der allerersten Szene sind wir an dem
Tag, an dem Betty und Filth nach London fahren, es folgt
die Wiederbegegnung mit Veneering nach Bettys Tod, dann
sind wir wieder bei dem Besuch in London, dann bei
Bettys Tod; das alles ist außerdem durchsetzt mit kurzen
Erinnerungssprüngen in die frühere Zeit.
Auffällig fand ich, dass auch in diesem Strang eine fast
80 Seiten lange Passage (in der deutschen Ausgabe)
chronologisch durcherzählt wird, durchbrochen nur von
kurzen Erinnerungen, bei denen man die Zeitebene nie
vollständig verlässt. Das ist Filths verrückte Autofahrt
gleich nach Bettys Tod, also der Zeitabschnitt, in dem
Filth nach seiner eigenen Einschätzung einen psychischen
Zusammenbruch erleidet. Es scheint, als müsste hier
wenigsten formal Ordnung gehalten werden, damit der
Zusammenbruch beherrschbar bleibt; als müsste sich die
Geschichte stur vorwärts bewegen, so wie Filth in dieser
Zeit offenbar in Bewegung bleiben muss.
Erzählerisch ist dies zugleich die Passage, in der die
beiden Zeitebenen zu verschmelzen beginnen. Durch die
Dialoge wird die Vergangenheit in die Jetztzeit geholt,
so dass man Filth/Eddie zugleich als alten Mann und als
Kind sieht. Dabei kommt immer mehr von Eddies
Kindheits-Traumata an die Oberfläche.
Gleich darauf wird Eddies gescheiterte Evakuierung
während des Kriegs erzählt, ebenfalls als durchlaufende
Passage (knapp 30 Seiten in der deutschen Ausgabe). Doch
wenn wir zum alten Filth zurückkehren, setzt sich das
Durchmischen der Ebenen fort; denn inzwischen hält Filth
die Vergangenheit nicht mehr unter Verschluss, er sucht
seine Erinnerungen aktiv auf. Das Ende ist schließlich
eine Wiederbegegnung mit seiner frühen Kindheit in
Malaysia.
Das alles wirkt auf mich nicht nur organisch, sondern
ungeheuer leichtfüßig. Diese Leichtigkeit wird durch die
Erzählstimme in den Roman hineingetragen: Die Figuren
nehmen ihr eigenes Schicksal nicht unbedingt auf die
leichte Schulter, und sie bewegen sich auch keinesweg
frei und souverän durch ihre Erinnerungen. Es ist die
Erzählinstanz, die uns zurückhaltend, aber mit sicherer
Hand durch den Roman dirigiert. Sie fasst zusammen,
gruppiert um, behandelt das eine ausführlich und das
andere in einem Satz, lässt ganze Jahrzehnte aus,
erklärt und verschweigt und ironisiert. Das könnte
beliebig oder konstruiert und damit irritierend wirken,
doch dazu ist diese Erzählinstanz viel zu stark mir als
Leser:in zugewandt: Ich glaube ihr gern, dass sie den
Stoff genau so darstellt, dass alle Gewichte richtig
verteilt sind.
Ich habe den Roman auf Englisch gelesen und kann wenig
zur deutschen Fassung sagen. Die Übersetzung ist ja sehr
gelobt worden, und was ich von ihr kenne, fand ich
sprachlich gelungen, höchstens etwas altertümlicher als
das Original. Und natürlich besitzt das englische
Original manchmal eine Eleganz, die auf Deutsch einfach
nicht machbar ist:
"Ingoldby – Feathers." Sir stellte die Jungen einander
vor und legte den Grundstein für die Zukunft.
'Ingoldby – Feathers,' introduced Sir, shaping the
future.